Goldwaage

Die „Goldwaagen-Diskussion“ ist ein interessantes und wiederkehrendes Thema in meinen Gesprächen. Mir ist aufgefallen, dass sie in meiner Gegenwart bisher immer nur von Männern begonnen wurde. Diese reagierten damit als „absichtlich missverstanden“ oder „bewusst fehlinterpretiert“ auf meine Rückfragen. Kurz: Sie redeten Müll und konterten gequält, wenn ich als Zuhörer nicht auf die angepeilte Wirkung oder das Gemeinte reagierte, sondern mich im tatsächlich Ausgedrückten verfing. Goldwaagen-Hasser sind der Meinung, dass „gesagt“ immer auch „gehört“, dass „gehört“ immer auch „verstanden“ bedeutet und das jedem immer klar ist, dass sie es nie böse meinen. Ein tragischer Irrtum, wie sich dann oft beweist.

Der Standard, von mir mittlerweile als „Goldwaagen-Diskussion“ bezeichnet, lautet zumeist: „Du weißt doch ganz genau, was ich meine, warum legst Du immer alles auf die Goldwaage?!“Nun ja, das müsste man hier kurz im Einzelfall untersuchen …


ER hatte so lange herumgeeiert und soviel Gewese veranstaltet, bis das vereinbarte Treffen dann plötzlich wegen Sinnlosigkeit nicht mehr stattfinden konnte. Er sagte dazu völlig unaufgeregt: „Schade, dass das dann gestern nicht mehr geklappt hat!“ Darauf reagierte ich ungut und sagte: „Was heißt hier 'ES'?! DU hast nicht geklappt! DU hast das Treffen durch DEIN Verhalten verhindert, das war kein höheres Wirken!“ Oha, da stand die Goldwaage dann aber schneller auf dem Tisch, als jemand „Autsch!“ quieken konnte!

Ganz offensichtlich wollte der Sprecher die Ursache der Unannehmlichkeiten ins Unbestimmte lenken und keineswegs „daran schuld sein“ …


ER hatte sich um die Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Aktion bemüht und kam nun gefrustet bei mir an. Nachfrage ergab: „Die haben mich eiskalt disqualifiziert!“ Ich stutzte: „Sie haben Dich also nicht mitmachen lassen?“ Er reagierte sofort rüde mit der Goldwaagen-Diskussion. Dass eine Disqualifikation nur einen Sportler wegen Verstößen gegen Wettkampf-Regeln oder Qualifikations-Normen treffen kann, änderte für ihn nichts an seinem „Ausschluss“. Und das nur, weil kein Platz mehr für einen weiteren Stand war!

Seine dadurch erlittene Kränkung musste er offensichtlich in gewaltige Worte gießen, um das sie richtig wirken konnte – und dann kam ich mit verbalen Finessen daher …


ER erzählte großartig von „einem Geschäft“ das er demnächst eröffnen werde. Ein Geschäft mit lauter gebrauchten Bauteilen für Lautsprecher. Ich fragte kritisch nach: „Was ist denn das genau für ein Geschäft – mit Secondhand-Elektro-Teilen …?“ Er hatte ja so getan, als plane er mindestens die Eröffnung eines exquisiten Salons in bester Lage. Es stellte sich nach einigem Gebohre allerdings heraus, dass er nur damit liebäugelte mal irgendwann einen Ebay-Shop mit seinem ganzen Krimskrams anzulegen. Ich sagte etwas entnervt: „Das hat aber wenig damit zu tun ein Geschäft zu eröffnen …“ Und schon stand mal wieder verärgert die Goldwaage auf dem Tisch!

Ganz offensichtlich hatte er sich und sein Vorhaben aufwerten wollen und war beseelt von seinem gloriosen und spektakulären Vorhaben „ein Geschäft zu eröffnen“. Es machte ihn regelrecht wütend, dass ich dieser unternehmerischen Blase dann inhaltlich die Luft rausgelassen hatte …


ER antwortete auf die weihnachtliche Zusendung meines Mops-Tagebuches „Hier isst Calimero!“ per Mail: „Ein Hundebuch! Obwohl Hund, naja, gut ok, woll‘n wa mal nich‘ so streng sein ... Und das mir, als bekennendem Hundehalterhasser :-). Ich habe mich ja noch nie intensiv mit den Verdauungsprozessen von derartigem Kleinvieh beschäftigt. Mal sehen, ob ich das verkrafte ...“

Meine Antwort lautete: „Oh, ich freue mich, dass es SO ein Treffer war! Mir war nicht klar, dass ich Dir als "Hunde"halterin dann ja einiges an Toleranz im Kontakt abverlange …“ Es machte *rumms* und die Goldwaage stand mal wieder auf dem Tisch! Wie jemand, dessen Bücher vor Humor nur so strotzten, im echten Kontakt so dermaßen engstirnig auf ein natürlich nur komisch gemeintes Wort reagieren könne und alles sofort auf die Goldwaage lege?! Und er liebe Hunde sehr - nur die liegengelassene Hundescheiße könne er eben einfach nicht ab!

Mir fehlten dazu dann die Worte. Wenn jemand, der große, assoziationsreiche Worte falsch benutzte, das dann auch noch per Email an eine fast Fremde schickte … Musste der sich wirklich wundern, dass ich mich vor den Kopf gestoßen fühlte, wenn eine Ladung „komisch gemeinter“ Aggressionen mich traf …? Ich als „Hundehalter“ reagierte auf das Wort „bekennender Hundehalterhasser“ – das passte ihm dann aber nicht …


ER hatte es weder fertig gebracht sich irgendwie um den Auftrag zu bemühen, noch sich in irgendeiner Richtung anzustrengen oder auch nur mal ansatzweise mitzuspielen. Meine Nachfrage ergab: „Das ist mir dann durch die Lappen gegangen!“ Hier treffen wir sozusagen direkt auf den Meister aller Goldwaagen: Ich als Zuhörer kann zwar den Kern der Aussage zuordnen (~ iss nich‘) aber störe mich an der falsch gewählten Form. Wenn „einem etwas durch die Lappen geht“, hat man sich vorher ernsthaft angestrengt und es passierte etwas unerwartetes, das dann den Erfolg vereitelte. Das Sprichwort ist der Jägersprache entnommen, dem trotz des Anbringens von Tüchern, das Wild überraschenderweise durch eben diese Lappen ging – und entkam. Der Sprecher reagierte mit der Goldwaagen-Diskussion, als ich ihn darauf hinwies, dass die richtige Antwort z. B. gelautet hätte: „Ich hab‘ es vercheckt!“

Mit diesem Jäger-Sprichwort wollte er sich dann wohl unbewusst den Anschein von Betriebsamkeit mit gescheiterten Bemühungen geben und reagierte äußerst empfindlich, als ich dann sein Phlegma thematisierte.


Schon die Benutzung der Wendung „etwas auf die Goldwaage zu legen“ ist in den meisten Fällen komischerweise schon in sich eine „Anti-Goldwaage“. Menschen, die so argumentieren, weichen in ihren Aussagen nicht um ein Ünzchen ab, was dann mit der Goldwaage erfasst würde, sondern schmeißen mit verbalen Trümmern, Brocken und Bomben um sich. Dann beschweren sie sich über die Wirkung, indem sie die selbst gesetzten Ursachen so verkleinern, dass die Reaktion darauf lächerlich erscheinen muss.


Zumeist reagieren Menschen mit der „Goldwaagen-Diskussion“ immer dann, wenn sie darauf hingewiesen werden, dass sie:

  • allgemein unsauber sprechen
  • falsche Worte benutzen
  • zu bombastische und entstellende Worte benutzen
  • Sprichwörter falsch anwenden
  • Sachverhalte beschönigen
  • sich heimlich aufzuwerten versuchen
  • passiv aggressiv sind
  • . . .

Der Kern ist immer derselbe. Menschen, die mit der „Goldwaage“ kontern, wollen die Verantwortung für die Wirkung des von ihnen gesagten nicht haben. Die versuchen sich aus der Ursachenlegung mit dieser Bemerkung herauszuziehen.

Möglicherweise ist es auch eine verdeckte Kapitulationserklärung – letzter Versuch der Ehrenrettung. Mit ihrer Ausdrucksweise stimmt nämlich alles, nur IHR seid leider Korinthenkacker …