Wertewandel, Paradigmenwechsel, Nihilismus ... Das alles sind Schlagworte, ohne die es keine Ausgabe einer arrivierten Zeitschrift heutzutage mehr macht. Schön daran: "Der Wertewandel" hat sich dergestalt in die Gesellschaft und den allgemeinen Sprachgebrauch eingeschlichen, dass kein Mensch begreift, was alleine schon dieses komische Wort eigentlich bedeutet. Von welchen Werten ist hier überhaupt die Rede? Und die haben sich - wohin? - oder in was genau? gewandelt ...?
Die meisten, die ich gefragt habe, eierten auch zuerst ewig herum und einigten sich dann zumeist darauf, dass die Werte an die sie "früher" geglaubt hatten (also mit denen sie in der Erziehung "geimpft" worden waren), nicht mehr wertig sind, sprich nicht mehr gelebt werden. Anstatt "Rücksicht", gibt es heute Ellenbogen und anstatt "Mitgefühl", gibt es den Titel "So ein Opfa!"
Die neuen Ideale der neuen Ellenbogen-Gesellschaft heißen: Konsum und Selbstbezug.
Zumeist wird wohl mit "Wertewandel" der Umstand angesprochen, dass sich die Gesellschaft in einer nihilistischen Tendenz befindet. Den Begriff des "Nihilismus" verdanken wir dem Schriftsteller Iwan Turgenev, der damit 1862 in seinem Roman einen abwertenden politischen Inhalt skizzierte. Heutzutage versteht man den Begriff eher sozialpolitisch in der grundsätzlichen Verneinung aller emotionalen Ansätze zum Verständnis des Lebens. Durch die "gedankliche Orientierung am Nichts", stellt das Leben den absoluten Vorrang des Individuums dar, dem alles denkbare erlaubt ist (siehe: Der Mensch als Krone der Schöpfung macht sich die Erde untertan). Die somit völlig fehlende Orientierung löst Entfremdung, Verlassenheit, Einsamkeit und ein Gefühl des Ausgeliefertseins an eine nicht verstehbare und beherrschbare Umwelt aus. Diese Art der "Geworfenheit" führt in eine pessimistisch-depressive Grundhaltung, deren Kern die Sinnleere und Sinnlosigkeit ist.
Die typische "narzisstische Persönlichkeitsstörung" ist jedoch ein ganz anderes Kaliber, denn diese zeichnet sich vor allem durch Selbstüberschätzung bis hin zum Größenwahn, Kritikunfähigkeit und mangelndem Realitätsbezug aus. Die Person erlebt sich als epizentrisch und reagiert verwirrt bis aggressiv, wenn sie dieses weltfremde Modell in ihren Beziehungen nicht beantwortet findet. In aller Regel kommt es mit der Erkenntnis, dass andere eben auch nur sich selber im Mittelpunkt haben anstatt sie nicht zu heilsamer Erkenntnis, sondern zu Bitterkeit bis hin zur Depression. "Keiner versteht mich! Keiner liebt mich!" Der Kern dieser komplexen psychischen Störung ist außerdem durch extreme Schwankungen im Selbstwert gekennzeichnet: Der Proband stürzt ungebremst, auch aus nichtigem Anlass, vom Himmel der strahlenden Gloriosität in die Hölle der vollkommenen Wertlosigkeit. Heute nimmt man an, dass ein (zu 70% ererbter) Mangel an "Glückshormonen" und ihrer Botenstoffe dafür verantwortlich ist, dass der Proband auf so einem völlig unrealistischen "High-Level" operiert. Da oben ist er vor diesen schrecklichen Höllenstürzen, aus denen er sich dann lange nicht mehr aufrappeln kann, sicher - so meint er unbewusst. Darum ist er konsequenterweise auch nicht kritikfähig - jede Art negativer Konfrontation könnte nämlich den Sockel aus Zuckerguss sofort zum Einsturz bringen!
Erich Fromm hat dem Narzissmus, als das wichtigste Störungsbild überhaupt, als Basis und möglichen Verursacher aller anderen psychischen Erkrankungen und Entgleisungen dargelegt. Unterschieden werden muss daher immer zwischen einem krankhaften Narzissmus, im Sinne einer Persönlichkeitsstörung (was behandelt werden muss), und einem narzisstisch begründeten Fehlverhalten. Das kann heutzutage auffallend lange verborgen bleiben, einfach weil sich viele so verhalten und weil diese Verhaltensstörung mittlerweile sogar oft als "normal" anerkannt wird ...
Alle Persönlichkeitsstörungen sind immer im Kern Störungen im Umgang mit sich selber und seiner Innerlichkeit. Die Folge davon wird dann sichtbar im konfliktären zwischenmenschlichen Umgang. Häufig präsentiert sich die Persönlichkeitsstörung flankiert von typischen Merkmalen wie:
- mangelhafter/fehlender Einfühlsamkeit,
- mangelhaftem/fehlendem Fairnessempfinden,
- extremer Empfindlichkeit gegenüber erahnter oder wirklicher Kritik,
- Egoismus bis hin zur Rücksichtslosigkeit,
- Arroganz,
- in vielen Facetten negativ auffälliges Sozialverhalten.
Die Unmöglichkeit sich oder Äußerungen anderer zu reflektieren, ist ebenfalls kennzeichnend und führt zu einer Verhärtung der Konflikte, weil diese "Offensichtlichkeit" - scheinbar ganz absichtlich - ignoriert wird.
Diskutiert wird auch intensiv in welchem Zusammenhang die "narzisstische Persönlichkeitsstörung" zur "Borderline Persönlichkeitsstörung" steht. Das Borderline-Syndrom ist die schwerste Form der narzisstischen Störung, bei der die emotionalen Schwankungen zumeist so plötzlich wie auch ungefiltert durchbrechen und auch ein sehr gewaltsames Ausmaß annehmen können.
Manche narzisstische Störung endet schließlich im Selbstmord: „Mich liebt sowieso niemand! Jetzt können die alle mal schauen! Sollen die sich doch Vorwürfe machen!" Auch viele Gewaltverbrechen geschehen aus einer narzisstischen Kränkung heraus: „Wenn ich nicht haben kann, was ich brauche, soll niemand das bekommen! Wenn ich gehe, nehme ich die alle mit!"
Diese nihilistische Richtung mit Sinn- und Ziellosigkeit ist in meinen Augen die Entwicklung, der die sogenannte kultivierte Welt derzeit schnell entgegen steuert. Und der Kapitän dieser maroden Schaluppe scheint eine Narzisse zu sein. Mit erschreckendem Ausmaß nimmt unsere Gesellschaft eine narzisstische Prägung an, die natürlich wunderbar mit dem Nihilismus interagiert! "Wenn man sich in der Welt eh' alles rausnehmen kann, wenn es eh' um nichts geht - dann schlag ich aber auch gleich mal richtig zu!" Ich beobachte immer mehr und in immer heftigerer Ausprägung, wie die ganze mich umgebende Welt nur noch im Scheuklappen-Ego-Wahn flimmert. Es geht im Kern dabei um folgende Themen: Ich - ich - ich - mein - mir- mich!
Ich bin aber weißgott nun nicht der einzige Beobachter der Narzissen-Plage, denn sogar schon die Forscher warnen seit 2012 vor einem Siegeszug der Selbstsucht und Egomanie in den westlichen Gesellschaften. Sie sprechen bereits von einer "Ich-Inflation" und einer drohenden "narzisstischen Epidemie", welche von Egomanie, Rücksichtslosigkeit und Gier flankiert werden. Diese Geisteshaltungen werden in stark leistungsorientierten Familien erzeugt und dann gesellschaftlich akzeptiert und gefördert. Internationale Studien berichten von einer alarmierenden Zunahme des sogenannten "narzisstischen Persönlichkeitsstils". Untersuchungen an Schulen ergaben, dass bereits bis zu 30% der Kinder und Jugendlichen deutliche Züge von übersteigerter Selbstliebe und einem überhöhtem Ego aufweisen! Es geht schon ihnen darum groß rauszukommen, sich gut zu vermarkten, sich ins beste Licht zu rücken - notfalls auch unkaschiert mit Ellenbogen. Leute wie Dieter Bohlen und ihre offene Manege "übertriebener Selbstdarstellung um jeden Preis", geben diesen fatalen Denkfehlern auch noch Futter und bestätigen sie.
Für manch einen von uns, ist die Denke der Narzisse ein wunderbarer Ausweg dem als ausweglos und langweilg erlebten Leben doch noch ein Schnippchen zu schlagen. Wir gönnen uns einfach eine kleine psychische Entgleisung! Der Narzissmus erlaubt es nämlich bei richtiger Handhabung, sich gratis aus seiner unbeachteten gesellschaftlichen Rolle, seinem angepassten und freudlosen Dasein und seinem unerfüllten, farblosen Leben zu befreien. Als Narzisse zwischen lauter durchschnittlichen (stinkenden) Hundskamillen hebt man sich mit seiner Großartigkeit von ganz alleine heraus und erhöht seine Bedeutung. Wegen nix. Aber das ist ausgeblendet, wenn man in seinem Kopfkino erlebt, wie die eigene Großartigkeit alle anderen überflügelt und sie so bestürzt wie beschämt unter sich zurücklässt ...
Hach!
Auffallend und wirklich gefährlich für meine Begriffe, ist die hier überall zugrunde liegende "Selbstzentrierung". Diese entstammt dem Suchtsystem und bezeichnet einen krankhaft auf sich selbst bezogenen Menschen, der alles was passiert mit "ich-mir-mein-mich" ins Verhältnis setzt. Während er ständig um sich selber kreist, verpasst er sich aber faszinierenderweise völlig - was auch den erklärten, aber natürlich nicht eingestandenen, Sinn der ganzen Übung darstellt. Selbstzentrierung ist der Königsweg der Vermeidung von Berührung: Abwendung von jeglicher Betroffenheit!
Und damit: Abwendung vom Menschen! Abwendung vom Leben.