Meerschweinchen-Terminator

Es begab sich zur Urlaubszeit, als es nachmittags an der Haustür schellte und ich meine liebe Nachbarin auf der Fußmatte vorfand. Sie trat mädchenhaft von einem Fuß auf den anderen und druckste verlegen etwas herum, bis sie ihr Thema, dann auch für mich verständlich, auf dem Tisch hatte. Das Thema hieß „Ricci“, italienisch ausgesprochen „Ritschi“. Wer oder was ein „Ritschi“ war, konnte ich mir da noch nicht bildhaft vorstellen. Es stellte sich heraus: Ritschi war ein Haustier. Und dieses Haustier war angeblich reiseuntauglich für einen Badeurlaub an den Küsten Sardiniens. Ich imaginierte, frei nach verschiedenen Versicherungs-Fernsehwerbungen, wie meine etwas korpulente Nachbarin, lachend, in einem flatternden Lappen und fliegenden Fissel-Haaren bei Sonnenuntergang mit einem, auch etwas korpulent wirkenden, Golden Retriever an der Meereskante joggte – das Ganze natürlich in Zeitlupe. Warum denn eigentlich nicht …? Sie weckte mich auf und ich erinnerte mich nach dem Wiedereintritt in die Stratosphäre sofort lupenrein, dass ich hier noch nie einen Golden Retriever im Treppenhaus gesehen hatte, nicht mal einen Toypudel. Es stellte sich vorsichtig formuliert heraus, dass Ritschi weniger ein Canide, als ein Rodentia, sprich ein Nagetier war. Um es kurz zu machen: Ritschi war ein Rosetten-Meerschweinchen-Bulle „in den besten Jahren“. Ich fragte scheu und ungebildet, wie viele Rosetten denn so ein Rosetten-Dingens hatte und ob die ungebrochene Produktivität derselben ein Aspekt seiner Reiseuntauglichkeit war …?! Sie illuminierte meine Bildungslücke nachsichtig lächelnd: „Die Rosetten sind nicht am Hintern, sondern im Fellstrich des Tieres. ,Rosetten‘ sind kreisförmige Verwirbelungen, die nebenbei gesagt sehr putzig aussehen …“ Verstehe. Die Versicherungswerbung blendete sich unwillkürlich wieder ein: Die etwas korpulent wirkende Nachbarin joggte immer noch lachend im Sonnenuntergang mit fliegenden Fissel-Haaren und flatterndem Lappen an der Meereskante entlang … Neben ihr hoppelte mühsam-unsportlich durch den weichen Sand ein, ebenfalls etwas korpulent wirkendes, Rosetten-Meerschweinchen. Das Ganze in Zeitlupe mit straff nach vorne verwirbeltem Fell (also in der Fachsprache: „vom Punkt weg frisiert“). Ridikül. Ich schüttelte mich in die Wirklichkeit zurück und unter zwei groß aufgerissenen Blauaugen hörte ich die bange Frage: „Und ….? Machen Sie es …???“ Shit. Das Gespräch musste einige wichtige Themen behandelt haben, während ich am Strand unterwegs war. „Äh …“, sagte ich nach einer diplomatischen Antwort stochernd. Und sie atmete aus und fiel mir an den ahnungslosen Hals: „Gott sei Dank! Das bedeutet uns viel! Er ist wirklich ganz unproblematisch, kümmert sich eigentlich nur um sein eigenes Zeugs und will abends nur seine Gurkenscheiben. Zwei Stück, fingerdick, mit Schale. Sonst ist er völlig anspruchslos!“ Ich hatte der Adoption also bereits zugestimmt, ohne wirklich dabei gewesen zu sein. Das ist so immer ein guter Anfang für eine lange Freundschaft …

 

Max, der olle Muffpott, war natürlich wieder spontan mit der Gesamt-Situation vollkommen unzufrieden und schilderte Ritschi‘s Aufenthalt in den glühendesten Farben der Hölle. Am Ende seiner leidenschaftlichen Ausführungen war sein teurerer Chippendale-Präsidenten-Schreibtisch ein Haufen rauchende Sägespäne, aus den Sofas sprangen die Sprungfedern zur Decke hoch und Ritschi saß fett gefressen einen Stock tiefer. Nur durch das kreisrunde Loch im Parkett sichtbar, im zweiten Stock auf dem Küchentisch der alten Meier … Ich illuminierte ihn, dass Meerschweinchen sich nur in absoluten Notfällen durch Sitzgruppen und Stahlbeton bissen. Daraufhin giftete er mich an, ob er mich ab sofort „ Frau Doktor Grzimek“ nennen sollte, oder seit wann ich mich mit Nagetieren so gut auskannte?! Mein souveränes „Sagt man halt einfach“ half auch nicht weiter, denn er war davon überzeugt, dass Ritschi ein ganz anderes Kaliber sei. Außerdem vermutete er hellsichtig, dass unsere Nachbarn gar nicht in Urlaub führen, sondern heimlich auf einen anderen Kontinent zögen! Weil einfach keine Versicherung Europas sie mehr aufnehmen würde – wegen Ritschis Untaten! Ich fragte vorsichtig, ob er eine schwache Ahnung habe, wie groß so ein Meerschweinchen überhaupt sei …? Er zuckte grimmig die Achseln und weil ich vermutete, dass er vermutete, Ritschi sei so mächtig gebaut wie ein irischer Wolfshund mit Zähnen groß wie Mairübchen, erwähnte ich zuversichtlich, dass zumindest Ritschi weit unter einem Kilogramm wog … Er ließ sich nicht beruhigen und kündigte sofort Sanktionen an: „Wenn dieses verflohte – DING – hier auch nur einen einzigen Kratzer ins Parkett schabt, dann lege ich um seinen offenen Käfig Toastscheiben mit Leberwurst aus und da können sich die Katzen dann gleich ein leckeres „Ritschi-Sandwich“ von belegen!“ In mir nährte sich der Verdacht, dass er eifersüchtig war. Oder einfach stinkig, weil keiner ihn in Ritschi‘s geplante Sommerfrische einbezogen hatte.

 

Ritschi zog also ein und Max, entgegen seiner blumigen Ankündigungen, dann doch nicht aus. „Ich will sein ganzes Gelerch nicht im Wohnzimmer haben!“, plärrte er düster auf Ritschi‘s umfangreiches Reisegepäck starrend. Die Katzen waren genauso unbegeistert und fauchten den völlig Desinteressierten genervt durch die Gitterstäbe an. Ritschi war eigentlich wunderhübsch. Er hatte ein ausdruckstarkes, kleines Gesicht mit einem dreieckigen Schnäuzchen, einer hellrosa Schnuppernase und sehr wachen, blanken Knopfaugen. Sein Fell war „bunt“, also schwarz, weiß, braun und rot, es stand in flauschigen Rosetten lustig in alle Richtungen puschelig von seinem taillienlosen Körper ab. Wahrscheinlich war er der Brad Pitt unter den Meerschweinchen, ich jedenfalls fand ihn zuckersüß. Er knabberte freundlich an der Fingerkuppe und spielte aufgeregt mit seinem Balli, wenn man ihn zum Gassi raus ließ. Alles in allem ein sehr brauchbarer Mitbewohner. Max mochte ihn trotzdem nicht. Er ging an ihm vorbei, funkelte ihn düster an und sagte Sachen wie: „Du kennst die Regeln: Ein Biss irgendwo rein - und Lakkamukko!!“ Dazu zog er mit gefletschten Zähnen den Daumen langsam über die Kehle. Unmöglich, aber echt.

 

Ritschi war tatsächlich genauso anpassungsfähig und bescheiden, wie er mir avisiert worden war. Es sei denn, es nährte sich der kleine Zeiger der sechs und der Große der Zwölf. Dann war dieses ach-so-anspruchslose Meerscheinchen plötzlich wie ausgewechselt! Da ich in seine diffizilen Essensgewohnheiten noch nicht so eingearbeitet war, verpasste ich natürlich glatt den Zeitpunkt an dem Ritschi sein Dinner erwartete. Er erinnerte mich aber dran. Max und ich saßen in der Küche herum, als Ritschi seine Show abzurollen begann. Es schepperte am Käfig. Stille. Scheppern! Stille. SCHEPPERN!!! Ich überließ den guten Max seiner Augapfel-Gymnastik und ging dann mal nachgucken. Da entdeckte ich unseren Untermieter, während dieser energisch entschlossen und laut scheppernd an seiner Trinkvorrichtung rackelte. Ich räusperte mich. Ritschi hörte auf zu rackeln und starrte mich reglos an. Es war ein Blick der sagte: „Du hast was vergessen und das war WICHTIG!“ Ich kam aber nicht drauf und Ritschi rackelte daher sofort entschlossen weiter an seiner Trinkflasche. Ich piekte ihn mit einem Strohhalm in die speckige Flanke und versuchte eine Ansprache zu erreichen: sinnlos. Rackel, rackel, rackel! Ich nahm also die verdammte Rackel-Flasche ab und mich traf ein nur vernichtend zu nennender Blick aus schwarzen Knopfaugen. Wir starrten uns an, ungefähr wie zwei Cowboys auf der Mainstreet um Highnoon. Ich ging. Und kaum saß ich wieder in der Küche: Schepper! Ein nervenzerfetzendes Geräusch kam aus dem Wohnzimmer, dessen Urheber unzweideutig mal wieder der anspruchslose, zarte Ritschi war. Als ich nachguckte, wurde es fast schon gruselig: Diesmal hing er wie ein Terminator mit den süßen kleinen Vorderpfötchen im Käfig verkeilt und donnerte mit seinen starken Vorderzähnen immer wieder in die Gitterstäbe. Dazu machte er ein Geräusch, das wie Fauchen klang. Dieses Meerschweinchen war schwerst angepestet, das war offensichtlich – nur warum?!

 

Ich überließ ihn seiner Geräuschkulisse, in die sich Max‘s schadenfrohes Gegacker mischte, und öffnete den Kühlschrank auf der Suche nach etwas Nervenstärkung. Da fiel mir die Gurke ins Auge: richtig, Ritschi wollte sicher sein Nachtessen! Ich schnitt also zwei fingerdicke Scheiben ab und als er das hörte, flippte er erst richtig aus! Trotz mehrerer Meter Luftlinie um zwei Ecken, erkannte er unzweifelhaft sofort das Geräusch, das ein Messer macht, wenn es eine Gurke zerteilt und begann zu fiepen und noch lauter zu scheppern. Sehr erstaunlich dieser Gast! Ich richtete dazu noch zwei Scheiben Möhre, eine halbe Walnuss und einen Apfelschnitz an. Dann wagte mich in die Geisterbahn, die mal mein Wohnzimmer gewesen war. Er hing wild funkelnd im Gitter und quiekte, als er mich nahen sah. Ich reichte ihm die Möhre an. Er ignorierte sie hasserfüllt. Ich reichte ihm den Apfel an, er ignorierte ihn genauso. Die leckere Nuss zog er nicht mal aus dem Gitter. Er wartete ganz offensichtlich nur auf seine Gurke. Ich reichte ihm also endlich die Gurke an: blitzschnell umklammerte er die für ihn ja riesige Scheibe mit diesen süßen Pfötchen, zog sie zu sich herein in die Sägespäne und setzte sich wüst entschlossen drauf. Dann starrte er blicklos auf meine Hände. Das Tier konnte vermutlich nicht bis drei zählen, aber bis zwei klappte das allemal! Ritschi wusste ganz genau, dass er noch eine weitere Lieferung zu erwarten hatte. Ich lieferte also, was blieb mir auch übrig, und er zerrte die Scheibe hektisch zu sich herein, schleifte sie mit Sägemehl paniert in sein Häuschen. Dann raste er wieder heraus und schleppte die zweite Scheibe weg. Abtritt Ritschi. Er war ein großere Mime und hatte das dramatische Fach gewählt, soviel war mal sicher. Ich vermute, wenn er gekonnt hätte, würde er verachtungsvoll ins Sägemehl gespuckt und die Tür hinter sich zugeknallt haben … Als ich später mal nachgucken kam, hatte er gründlich aufgeräumt: Möhre, Nuss und Apfel waren abgeholt und eingelagert worden.

 

So weit, so gut. Man konnte ihn jedenfalls nicht vergessen zu füttern, denn er erinnerte ab 18h akustisch ununterbrochen an sein noch ausstehendes Dinner. Dann kam dieser Tag, da war die Gurke schon ziemlich lasch, also schälte ich die schon schrumplige Haut ab und reichte notgedrungen die schon etwas weichen und recht kleinen Scheiben an. Da war was los! Er zerrte sie höchst missgelaunt zu sich herein, setzte sich grimmig drauf und lauerte auf seine „echte Beute“. Es kam aber nichts mehr desselben, weil wir einen Einkaufsfehler begangen hatten und die verdammte Gurke eben nicht auf dem Zettel stand! Er starrte wüst durch die Stäbe, während er die beiden laschen Gurkenscheiben ausbrütete. Ich konnte ihm seinen Text vom Gesicht ablesen: „Zwei fingerdicke Scheiben mit Schale, oder ich mach hier richtig Randale!“ Ich reichte zitternd Apfel, buntes Nuss-Potpourri mit Rosine, Möhre, Kohlrabi, Endiviensalat, Kartoffel und sogar Pastinake an, alles was das Haus hergab – chancenlos! Er starrte mich wüst auf seinen lahmen Gurken thronend an, umringt von den frischesten Leckereien, die ihm sprichwörtlich bis zu den Ohren standen und bewegte sich keinen Millimeter. Als ich das Zimmer verließ, ging das Gerackel wieder los. Irgendwann hatten ihn dann wohl die Kräfte verlassen, denn ich als ich später mal nachgucken kam, war er in seinem Bungalow, hatte aber nur die kränklichen Gurken mitgenommen, alles andere nicht angerührt. Noch am Morgen lag alles lasch und welk herum. Vielleicht konnte er das ganze Zeug nur verdauen, wenn vorher genügend Gurkensaft geluncht hatte …? Komischer Typ jedenfalls dieser Ritschi, sehr eigen.

 

Aber das größte Problem war „the Day after“ – der Tag nach der laschen Gurke war nämlich auch noch ausgerechnet ein Sonntag. Das hieß: nun gab es überhaupt keine Gurke mehr  im Haus! Ich wagte nicht daran zu denken, was Ritschi alles veranstalten würde, wenn er zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben, heute keine Gurke zum Dinner bekam. Warum hatten meine Nachbarn auch einen neurotischen Nachtschatten-Autisten erzogen?! Und warum hatten sie nicht gleich eine ganze Kiste von seiner Droge mitgeliefert, wenn das Tier ohne das Zeug sogleich in Krämpfe fiel?! Ich fand das im Rückblick so sorglos wie schwer egoistisch. Also schickte ich Max los, um an einem Sonntag irgendwo Gurke zu kaufen: Preis egal! Er kam natürlich mit leeren Händen wieder und berichtete in schillernden Farben von all den völlig unmöglichen Dingen, die es Sonntags an Tankstellen zu kaufen gab – Gurke war allerdings nicht dabei gewesen. Ich hetzte ihn ins Treppenhaus und er tat es tatsächlich. Als er bei der alten Meier unter uns nach grüner Gurke fragte, schaute sie ihn mit schiefgelegtem Kopf an und sagte dann bedächtig: „Sie haben den Ritschi, gäh …?“ Sie hatte ihn nämlich auch schon mal gehabt und war nach einem eigenen Gurkendebakel aus der Serie ausgestiegen. Konnte sich aber dahingehend retten, dass sie sich eben einfach nicht mehr so bücken konnte. Glück gehabt. Das konnte man von uns aber leider dann nicht sagen, denn von den restlichen sieben Parteien im ganzen Haus hatte angeblich(!) keiner eine grüne Gurke im Haus.

 

Es kam genauso grässlich wie schon erwartet. Ritschi verfiel erst in Krämpfe und rackelte, bis ihn die Kräfte verließen, dann trat er sofort in den Hungerstreik und schloss sich in seinem Bungalow ein. Möhre, Apfel, Salatblatt holte ich morgens wieder vollkommen missachtet und so welk, wie paniert aus dem Streu. Wahrscheinlich plante er schon seine Rache. Ich stellte mir vor, was einer wie Ritschi wohl alles anstellen konnte …? Ich sah ihn vor mir, wie er sein Hinterteil wütend ans Gitter presste und voll aufs Parkett kackte. Fies, aber subtil.

Vermutlich war er zu entkräftet oder ihm fehlte ohne Gurkensaft einfach die Fantasie, jedenfalls geschah nichts dergleichen. Auch wenn er ein goldiges Kerlchen war, blieben meine Gefühle ihm gegenüber zeitlebens gemischt. Uns und einen Krieg trennten immerhin täglich nur ein paar Gurkenkerne …