INHALTSVERZEICHNIS
1. Beim Irrenarzt
2. Game over, Nigger ...
3. Elfriede
4. Meine Oma
5. Dreams made by Tchibo
6. Der Geist der vergangenen Weihnacht
7. Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht
8. Wo ich mal herkam
9. Stillstand
10. Plan fürs Leben
11. (K)alte Liebe
12. Karriere, oder so …
13. Domino
14. Aufräumen
15. Arbeitstreffen
16. Authentizität meets Arschloch
17. Rungholt
18. Enzo, Enzo und Enzo
19. Kassensturz
20. Ankommen
WASCHZETTEL
Anliegen
Die Intention des Buches besteht darin, Menschen "in der Lebensmitte" sowohl anzustupsen, als auch freundlich zu ermahnen etwas genauer hinzuschauen, ob die irgendwann getätigten Entscheidungen überhaupt noch tragfähig sind ...?!
Wir benehmen uns alle so verschwenderisch und naiv, als sei unsere Lebenszeit unendlich ... Viele um die Fünfzig kriegen allerdings langsam mit: Iss gar nicht! Mehr noch: Für viele Sachen ist der Zug sogar mittlerweile schon für immer abgefahren! Und einige von uns stellten sogar schon unangenehm berührt fest, dass sie sich mit ihrem Körper in den letzten Jahren scheinbar irgendwie auseinander gelebt haben müssen?!
Haltet doch mal inne ... Seid ihr denn glücklich geworden? Wollt ihr das überhaupt noch?
Kleiner Tipp: Entscheidungen, die wir mal getroffen haben, sollen UNS folgen - und nicht wir IHNEN ... !
Zugrundeliegende Erfahrung
Ich bin eine Frau. Ich bin Fünfzig. Und ich hab es teilweise echt krachen lassen. Manchmal fehlte es dann, mal rückblickend betrachtet, allerdings auch mächtig am Samen ...
Diese ganzen Erzählungen, Geschichten und Katastrophen sind autobiographisch - allerdings musste ich nicht alles selber durchmachen und habe auch lebhafte Anleihen beim Drama Anderer genommen.
Niemand schreibt schönere, schrägere und unglaublichere Geschichten, als das Leben selber!
Käufergruppe
Insbesondere Frauen ab 40 Jahren.
Alle, die sich mal mit dem Thema "Midlifecrisis" auseinandersetzen müssen oder wollen.
Stilmittel
Ich bemühe mich auch hier wieder so zu schreiben, als hörte man mich sprechen. Es ist mein Anliegen nicht in schweren und traurigen Erinnerungen zu versinken oder Mitleid zu erregen, sondern alles in komischer Weise noch einmal intensiv nach zu erleben oder nachzustellen - und damit dann therapeutisch nutzbar zu machen.
Es ist eine Inspiration für Euch es Gloria gleichzutun, mal einzutauchen in die eigene Gefühlswelt, um der möglicherweise auch bei Euch geheimer Weise vorhandenen Enttäuschung mal endlich auf die Spur zu kommen ...
Wichtig ist mir: Es geht nicht um Abrechnung, es geht um Versöhnung!
LESEPROBE
Ich schaute melancholisch zu dem alten Relikt auf dem Kaufhofdach hinüber, es erinnerte mich plötzlich massiv an meine kindlichen Weihnachten damals bei Oma! Alles war da noch so überschaubar gewesen irgendwie. Meine Großmutter erinnerte ich als eine sehnige, hochgewachsene Frau mit kastanienbraunem dünnen Haar, blauen Augen und einer scharfen Adlernase. Ich kannte sie nur gutgelaunt, liebevoll und optimistisch. Bereits als Schulkind fragte ich mich, wie ihre Tochter eine so dermaßen negative, freudlose und unfreundliche Person geworden sein konnte! Eigentlich hatte meine Oma wirklich genügend Mist erlebt, um nicht dauernd zu lachen, aber sie tat es dennoch. Sie wuchs ohne Vater auf, und hatte als junge Frau vor dem Krieg eine Tochter gehabt, die Marion hieß. Dieses bedauernswerte Geschöpf litt an etwas, das man damals „Wasserkopf“ nannte, das hieß: Im Gehirn sammelte sich Flüssigkeit an. Dieses arme Würmchen lag nun Tag und Nacht vor Schmerzen schreiend in den Armen ihrer Mutter und niemand konnte ihm helfen. Meine Oma investierte daraufhin jeden einzelnen Pfennig in gute Wolle und häkelte ihrer zerquälten Tochter ein unglaubliches Volant-Kleid. In jeder Masche steckte Liebe und die Hoffnung auf ein spätes Wunder. Mein Opa war so tief beeindruckt von diesem Stück Handwerkskunst, dass er ebenfalls zu sparen begann und ihr versprach, dass auch sie ein schönes Kleid bekam, wenn dieses Meisterwerk fertiggestellt wurde. Als man das prachtvolle Kleid anprobierte, war die kleine Marion bereits von ihren furchtbaren Schmerzen erlöst und wurde mit nur knapp drei Jahren darin beerdigt. Das ersehnte neue Gewand meiner Großmutter war tiefschwarz und sie trug es am Grab ihrer kleinen Tochter … Ein paar Jahre später wurde ihr Mann in den Krieg nach Russland eingezogen, verlor dort ein Bein, worüber er vollkommen verbitterte. Meine Oma wurde mit ihrer zweiten kleinen Tochter, meiner Mutter, 1943 in Barmbek komplett ausgebombt und musste in eine Gartenlaube ziehen. Sie nähte dort nachts mit der Hand Lampenschirme beim Schein von Kerzen, um sich und die kleine Friedl zu ernähren. Anfang der Siebziger wurde ihr Mann dann schwer krank und siechte lange unter schrecklichen Schmerzen dahin, man nannte es damals „Blutkrebs“, also Leukämie. Oma pflegte ihn zuhause bis zu seinem Tode und verwitwete schließlich mit nur zweiundsechzig Jahren. Dennoch beklagte sie sich nie. Sie muss hochintelligent gewesen sein, ob sie aber unter der Blödheit ihrer Tochter gelitten hatte, war mir nicht bekannt. Ich fand in einem Buch einmal ihr Kaufmanns-Zeugnis, dass vor Auszeichnungen und Einsen nur so wimmelte und auch die Abschrift eines Zeugnisses meiner Mutter auf einem Kneipenzettel: Alles voller Vieren und Fünfen, dazu zynische Bemerkungen über ihre stürmische, unkonzentrierte und unreif-alberne Art. Meine Mutter kam nach ihrem lügnerischen Opa und hatte immer erzählt, sie habe die Realschule sehr gut abgeschlossen. Hier aber nun zeigte sich, dass sie ja nicht mal die Hauptschule einigermaßen geschafft hatte. Sie druckste beschämt herum, dass sie uns halt nicht demotivieren hatte wollen … Verstehe. Das meine Mutter unzweifelhaft ADHS hatte, war sogar schon auf den alten Fotos ersichtlich: Es gab nicht eines, auf dem sie keinen Gips trug! In jedem Jahr stand sie breit grinsend neben einem Weihnachtsmann, immer wieder anders geschient! Dennoch erkannte ich sie nicht wieder: heiter, unschuldig, offen und schalkhaft wirkte dieses Mädchen auf den Fotos, so hatte ich meine bittere und böse Mutter nie erlebt! Auch ihr Körper wies einige heftige Unfallnarben auf: Ein in der Jugend abgerissener und völlig deformierter Fingernagel. Außerdem ein riesiger, bläulicher Risskrater im äußeren Oberschenkel. Da sei sie beim Sturz aus einem Apfelbaum an einem abgesplitterten Ast aufgespießt worden. Möglicherweise hatte sie ihrem Vater auch ein Sohn sein wollen, weil er so sehr um die verlorene Tochter trauerte und sie diesen Platz niemals würde einnehmen können …? In jedem Fall war es die typische Hyperaktivität eines jugendlichen ADHS-lers. Mein Bruder hatte das so geerbt und sah schon alleine nach einer Runde Dreirad auf dem Parkplatz aus, wie Cassius Clay nach einem acht-Runden-Kampf … Keiner konnte je nachvollziehen, wie ein Vierjähriger es auf ebener Straße geschafft hatte sich innerhalb von zwölf Minuten eine fette Achtundachtzig ins Fahrzeug zu falten, und dazu noch zwei aufgeschlagene Knie und ein blaues Auge mitzubringen ... Rückblickend wunderte ich mich, dass er die Pubertät überhaupt erreicht hatte. Sein Schutzengel trug einen Pieper, Spikes und musste stets gut deodoriert sein! Er war eigentlich immer irgendwie grün und blau, total verschwollen, und zog leicht das eine oder andere Bein nach. Das Ganze wurde auch geliefert mit blutverkrusteten Abschürfungen, in denen noch etwas Rollsplitt steckte. Er hatte auch in späteren Jahren gerne mal ein verbogenes Vehikel unter dem Arm, an dem noch leise quietschend ein Rad langsam eierte … Meine Mutter nannte es schlicht „Wahnsinn“, meine Oma sprach von „Pech“. Mit zwei bis drei zugekniffenen Augen könnte man das natürlich auch als Pech bezeichnen! Pech beim Mit-dem-Gokart-schräg-den-Kantstein-Rauffahren … Pech beim Mit-dem-Bollerwagen-einen-steinigen-Abhang-runterrasen … Pech beim Herumrennen auf der Bullenwiese im roten Trainingsanzug … Pech allgemein immer mal wieder beim Vollbremsen in der Kurve, auf wechselnden Gefährten … Pech mit dem alten Staubsauger beim Downhill … Pech beim Turmspringen ins Planschbecken … Pech beim Weitsprung auf Stelzen … Wobei er gewonnen hätte, wenn Olli nicht in der Sandkiste stecken geblieben wäre und ihm im Umfallen dann die Nase gebrochen hätte! Sie einigten sich daher auf „unentschieden“ und verabredeten Satisfaktion … Pech halt.
So war das damals bei uns und wir alle, bis auf meinen Vater, der nur jähzornig war, arbeiteten unerkannt im Untergrund des Wahnsinns. Mein Bruder und ich hatten es also von unserer Mutter geerbt. Und diese hatte es ebenfalls von ihrer Mutter, meiner Oma, welche das noch im höheren Alter unter anderem durch eine nicht abreißende Kette von Haushaltsunfällen demonstrierte. In ihrer ständigen Hektik schmiss sie alles um, warf es runter oder zerschlug es gleich ganz. Jeder einzelne Teller ihres Haushaltes war angeschlagen, und alle Tassen, Gläser und Schüsseln hatten irgendwo einen Becker. Die Tischdecken waren komplett mit Flecken-Schatten voll, die sich auch nicht mehr auskochen ließen, wahrscheinlich Sauce. Sie schaffte es aber auch „zufällig nebenbei“ mal kurz eine ganze Tafel komplett abzuräumen. Und zwar, indem sie den Knopf ihrer Hose beim Sitzen irgendwie in die Spitzendecke einfädelte und dann plötzlich aufsprang und losrannte … Tja. Das hatte auch ich auf jeden Fall geerbt! Wann immer mir damals jemand ein Glas Milch in die Hand gab, dauerte es generell genau zwölf Sekunden, dann machte es vernehmlich „Blunk!“ Immer auf den guten Teppich runter damit! Auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche begleitete einen somit ein undefinierbar säuerlich-vergorenes Aroma. Tja. Wie zumindest ich wusste, war dies das Wirken mehrerer Liter antiker Buttermilch in der Auslegware. Aber ich hatte mich nicht nur auf Teppiche spezialisiert, ich konnte mit der Nummer auch fehlerfrei auf Sofas auftreten! Wann immer die Familie Freitagabend zu „XY-ungelöst“ am Telefunken zusammensaß, knabberten jedoch nur drei ihre „Würmer“ aus der Schüssel. Die Vierte lag am Boden und sammelte die ganzen Versprengten gerade aus der alten Buttermilch im Teppich … Und auch mir waren in späteren Jahren Tischdecken mit unauskochbaren Saucen-Emblemen nur zu gut bekannt. Wenn Tischdecke, dann nur Camouflage – oder gleich Gummi! Und ausnahmslos alle Oberteile hatten entweder irgendwo einen frischen Fleck, oder die Halo irgendeines Ex-Fleckes. Die Sorte, auf der man mit dem keimigen Spüllappen „mal eben kurz die kleine Fleckenbehandlung für Zwischendurch“ gemacht hatte. „Ein weiterer Fall von exkorporaler Verdauung“, sagte Kai dazu nur lakonisch „Fliegen machen das ja auch so …“ Wann immer ich meine Mutter traf, stießen wir mit ausgestreckten Zeigefingern gegeneinander: „Ach, hallo …äh, Du hast da was …!“ „Ja, hallo … äh, Du übrigens auch …“ Und im Chor: „Fett?!“
Und Oma hatte sowieso immer was! Außerdem besaß sie den für eine unerkannte ADHS typischen Hang zur Übertreibung. Wenn man dann noch die überlieferten Geschichten ihres Vaters zugrunde legte, wusste man auch gleich, von wem sie es wohl geerbt hatte! Meine Oma hasste ihren Vater noch immer, obwohl sie ihn seit über sechzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie wusste wahrscheinlich gar nicht, wie nahe sie ihm war, denn schon als Kind fiel mir auf, wie hektisch sie ständig mit ihren mächtig verlebten Spüllappen permanent auf den Arbeitsflächen hinter mir her gewischt hatte. Ebenso war es ihr undenkbar zu Bett zu gehen und noch Abwasch in der Küche stehen zu haben. Ihr Vater sei nämlich Seemann gewesen, und in einer kleinen Kombüse musste man sich einfach selber immer hinterher sein, damit man sich da nicht festpackte, erzählte sie beim Wischen. Wann immer Hans Albers sein markig-melancholisches Gesicht in unser Wohnzimmer gehalten hatte, rief sie hektisch: „Mach den weg! Der sieht aus wie mein Vater!“ Als Jugendliche hatte ich verständnisvoll lächelnd vermutet, dass sie sich da einen Traum gebastelt hatte: Der Vater sah aus wie Hans Albers, na klar! Heute jedoch sehe ich ihre Züge deutlich durch sein Gesicht hindurchschimmern …
Omas Papi war Seemann auf einem Frachter bei der Hapag gewesen, hatte sich aber zeitlebens überall als „Kapitän“ ausgegeben. In den Akten später fand man aber mitnichten ein Patent, sondern nur einen Versicherungsschein mit dem Titel „Arbeiter“. Der gefälschte Kapitän hatte bei Landurlaub zuerst immer mal, nach guter alter Schiffsmanier, ein paar Eimer heißes Scheuerwasser über die Planken gekippt und das Schrubben angefangen. Wenn dieses Wasser dann durch den Holzboden zu tropfen begann, wussten die unten Wohnenden spätestens: „Oh, Gott! Er ist zurück!“ Im weiteren Verlauf legte „der Kapitän“ dann einen typischen ADHS-Lebenslauf hin und verschwand einfach spurlos. Vielleicht war er betrunken oder bei einer Rauferei über die Reling gefallen, in damaligen Tagen konnte man so ja tatsächlich ertrinken, weil ja die Matrosen absichtlich das Schwimmen nicht erlernten, um im Notfall nicht ewig unnötig zu kämpfen. Oder er hatte sich in einer Hafenkneipe auf Manila den Tod geholt. Vielleicht war er auch das Dinner einiger Insulaner geworden. Und möglicherweise hatte er sich sogar „bei den hübschen brauen Frauen“ in einer Bambusklitsche eingemietet und aß dort nun gegrillte Kakerlaken. Zwei Matrosen aus seiner Heuer standen somit 1918, mit zerknautschten Mützen, unglücklich von einem Fuß auf den anderen tretend, eines Tages stammelnd vor der Tür und mussten seiner Frau diese Kunde bringen. Niemand hatte jemals wieder etwas von ihm gehört, und zumindest die unten wohnenden werden diesen Umstand wohl begrüßt haben. Überliefert ist nur, dass meine Urgroßmutter über diesen Akt verfrühter Verwitwung nicht allzu traurig gewesen sei, und keine Anstrengungen unternommen hatte den Verschollenen aufzuspüren. Er hatte immer so laut von all den barbusigen, schönen, braunen Frauen in den Bananenröckchen geschwärmt, dass er wohl einfach dageblieben war. Ende der Geschichte.
Omas Mann schrie übrigens auch immer: „Mach die weg!“, wenn Clementine mit ihrem Ariel ins Wohnzimmer trat. Er behauptete immer, ihm würde übel von ihr. Aus heutiger Sicht konnte ich das sogar fast nachvollziehen, als Kind war es mir schleierhaft – das war doch ‘ne nette Frau?! Er war ein stämmiger Mann mit einem großen quadratischen Kopf und deutlich kleiner als meine Oma. Verbittert und ausgebrannt war er 1946 aus Russland nach Hause gekommen, hatte den linken Fuß an der Front in Leningrad verloren, wegen einer Sepsis dann eine grässliche Folge immer weiterer Nachamputationen bis zum Knie erleiden müssen, und nannte sich selber „einen alten Krüppel“. Mit seiner Protese kam er nie zurecht und hasste sie innig. Wenn ich das halbe rosa Plastikbein mit den alten Ledergurten am Holzträger lehnen sah, wurde mir als Kind immer übel. Die Ehe meiner Oma war mit seiner Rückkehr vorbei gewesen, denn er war als ein gewalttätiger und seelisch völlig verkrüppelter Mann zurückgekommen. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass es die herrlichste Zeit ihres Lebens gewesen sei als sie, nach der Feuernacht Gomorrha 1943, in der Gartenlaube ihrer Verwandten alleine mit ihrer Mutti gelebt hatte. Als ihr Vater dann zurückgekehrt war, tobten sich seine wüsten Aggressionen auch ungehemmt an ihr aus. Eine mögliche Erklärung für mancherlei zwischenmenschlich bedenkliches.
Aber zurück in die alten Erinnerungen tauchend, trat das Weihnachtszimmer in mein Bewusstsein. Es war nicht groß gewesen und voller amöbenartiger Strukturtapeten, gemusterter Teppiche, Topfpflanzen und dichter Gardinen in Wellenform. Das graue Bakelit-Telefon trug, gemäß des Modediktates der Achtziger, einen zweiteiligen grün-goldenen Brokatponcho und nannte sich nach Duden damals so schmissig „Fernsprechtischapparat“ - unter Fachleuten „FeTAp 61“. Damals wurde er nur in kieselgrau produziert, weshalb er im Volk „Graue Maus“ genannt wurde. Es standen ein dunkler Vitrinen-Schrank und eine hochbeinige Anrichte aus den vierziger Jahren im Raum. Auf dieser thronte mittig eine gigantische, dickwandige, rote, längliche Glasschale, mit kunstvoll zipfelig ausgezogenen Enden - wahrscheinlich ein kostspieliges Hochzeitsgeschenk. Diese Schale war stets in den Rinnen verstaubt und ansonsten ein Born an Zeugs gewesen: Gummibänder, Brillenputztuch, Kugelschreiber die zumeist ausgelaufen waren, Dominostein, abgelebte Bleistiftstummel, knitterige Lottoscheine, Fahrradschlüssel, Rabattmarken, Stecknadeln, Büroklammern, Briefmarken, und der unvermeidliche Blitzwürfel, auf dem aber generell nur noch ein Lämpchen brauchbar war … Auf drei seegrünen Ungeheuern aus stacheligem Plüsch prunkten - mit vorschriftsmäßig mittig gebrochenem Rücken - die verschiedenfarbigen, würfelförmig gerafft gearbeiteten Paradekissen aus Samt und besticktem Goldbrokat.
Das bürgerliche Zimmer hatte aber auch ein Geheimnis enthalten. Erst nach dem Tod von Oma hatte sich herausgestellt, dass die prunkvolle, hässliche und riesige Bodenvase mit den opulenten Bildern und den Griffen aus goldenen Weintrauben, aus dem Rokkoko stammte! Es handelte sich nämlich nicht um Malerei, sondern um Goldadern in Kobalt, und das Exponat entstammte einem europäischen Schloss. Leider war es am Hals abgebrochen und tölpelhaft mit Unmengen an Pattex geklebt. Ein Umstand zu dem ich mich bei entsprechender Ansprache wohlweislich ausschwieg! Oma hatte damals nur herzhaft über das Malheur gelacht, denn ihr bedeutete „dat olle Schietdings“ nix. Erst in ihrem Nachlass wurde ein Brief aus dem Jahre 1943 entdeckt, der dieses unfassbar hässliche Teil als Kunst enttarnte. Eine Männerhandschrift hatte einen Pfandbrief aufgesetzt und die Einstellung der Vase gegen den erhaltenen Betrag von 100 Reichsmark quittiert. Die Vase sei an die beiden Besitzer oder Überbringer einer entsprechend gekennzeichneten Nachricht gegen den Erhalt von 200 Reichsmark wieder herauszugeben. Dazu ist es aber nie gekommen, und so hatte Oma dann eben 45 Jahre lang mit einer scheußlichen Kriegsbeute unbekannter Herkunft gelebt. War ja nun auch immerhin möglich, dass doch noch einer kam! Ich konnte mir bis heute nicht vorstellen, wie man auf die Idee verfallen war mitten durch den Krieg diese fast einen Zentner schwere Rokkoko-Vase von Pontius nach Pilatus zu schleifen, und sie ausgerechnet im englischen Bombenkorridor in einer Wohnung in Hamburg-Bramfeld einzulagern …! Eine ganz und gar mysteriöse Piratengeschichte.
Oma’s Präsenzbibliothek befand sich auf drei von schwarzen Metallstangen gehaltenen Teakholz-Brettern über dem „FeTAp 61“. Sie bestand im Gros aus zwölf Bänden „Angelique“, vielen zerlesenen Konsaliks, Walraffs „Ganz unten“, verschiedenen Kochbüchern, dem Duden, und dem 1974 erschienenen, in schwarzem Stoff gebundenem, großformatigem Universalwerk „Unser Deutschland“. Dieser Bibliothek fiel, in der Zeit zwischen dem zweiundzwanzigsten Dezember und dem dritten Januar, ein gehobener Rang zu. Hier kam nämlich der deckenhohe Baum zu stehen, was dem schon engen Zimmer regelmäßig den Rest gab. Ich schüttelte den Kopf in Erinnerung an Omas unsägliche Bäume. Sie war wirklich jedes Jahr der unumstößlichen Meinung gewesen eine „gut gewachsene, schön buschige, gerade, garantiert nicht nadelnde Fichte“ erworben zu haben. Und sie wurde das gesamte Fest über nicht müde sich mit meinem Vater darüber zu streiten. Aber ach, was hatte man ihr da bloß jedes Jahr für ein unglaubliches Ungetüm aufgehängt! Mein Vater vertrat die Meinung, dass der Lump von einem Baumverkäufer das krummste, magerste, nadelndeste und hässlichste Ding stets absichtlich zur Seite stellte, bis dann endlich Omma angedackelt kam. Und der schwatzte er diese Leiche von einem Tannenbaum dann für 30 Mark auf … Jahr für Jahr! Zumeist war dieses Gestrüpp völlig schief abgehackt und hielt sich nicht mal alleine in dem alten, windigen Gusseisen-Ständer. Weil Oma sehr patent war, ließ sie sich von derlei Kleinigkeiten aber nie unterkriegen. Somit hatte sie flugs zur Geheimwaffe gegriffen: gelbe oder blaue Plastikwäscheleine. Mit dieser erigierte sie den haltlos ins Zimmer lappenden Baum am Metallgestänge der Präsenzbibliothek kurzerhand in die Senkrechte. Er war von oben bis unten mit klimpernden, vielfarbig wachsbekleckertem, altem Baumschmuck behängt und uraltem Stanniollametta überzogen - das knittrige mit dem Blei-Kern! Überall waren Leckerlis aus Blätterkrokant, Fondant, Nonpareille, Marzipan, Nougat, Knickebein und Melba versteckt. Dazwischen steckten windschief, und sich im überwärmten Zimmer bereits leicht verbiegend, auf den vollgekleckerten goldenen Klemmhaltern, die Echtkerzen aus durchgefärbtem, rotem Stearin. Meinem schwachnervigen Vater schwanden serienmäßig die Sinne, wenn er das ganze Spektakel da sah und dachte nur noch an den Wassereimer, der aber vorschriftsmäßig gefüllt direkt neben dem Baum stand - damals trug man das noch so! Echtkerzen waren wichtig, sonst galt es eben einfach nicht! Und Rot sah man im Januar auch besser auf dem Teppich, wenn man mit Löschblatt und Bügeleisen dort schließlich zuwege war. Sollte jemand, und das war bei zwei Kindern mehr als wahrscheinlich, nun dort vorbei gemusst haben, geriet sofort der gesamte Baum nadelnd, blinkend und klimpernd in wilde Schwingungen. Das führte programmgemäß zu einem kollektiv-gequält-jammernden, stets dreistimmigen: „Deeeer Baaauuuummmm!!!“ Jedes Mal! Auch schön irgendwie …
Trotz der periodischen Erschütterungen war dennoch fast niemals etwas passiert. Nur einmal gab es einen großen Auftritt. Der Baum war auch da wieder an der Bibliothek vertäut gewesen und keiner kriegte etwas von dem sich anbahnenden Spektakel mit, weil alle mit vollen Backen schmausten. Plötzlich ratterten alle Angeliques und Konsaliks wie ein Schnellfeuergewehr zu Boden, und bevor auch überhaupt nur jemand begriffen hatte, was grad passierte, senkte sich auch schon der Baum beschleunigt ins Essen! Super-Sache: Ein mit fünfzehn brennenden Kerzen bestückter Baum fiel ungebremst ins überladene Zimmer, direkt auf das einzige Kind und begrub dieses, samt Putenschlegel, formlos unter sich. Kurz: ein Riesen-Trara! Aber außer jeder Menge roter Wachsflecken auf allem und jedem, war nichts passiert. Das Kind, leicht geschockt, sah aus wie ein rotgepunkteter Igel, es war aber nichts angekokelt. Auch abgesehen vom Bücherregal, dessen Jahr für Jahr malträtierte rechte Schraube sich schließlich, dramaturgisch 1A, aus Wand und Dübel gelöst hatte. Und wenn man darüber hinweg sah, dass der gute Puter sich bei dieser Gelegenheit ein hübsches Kleidchen aus Fichtennadeln übergezogen hatte … Womit Oma argumentativ in die Schieflage geriet, so von wegen: kerzengrade gewachsen, gut fixiert und garantiert bis April nicht nadelnd! Aus heutiger Sicht vermute ich, dass es sicherlich ein riesiges Gefrett war die ganzen Nadeln von dem fettglänzenden Klops wieder runterzukriegen, als Kind mampfte ich rotgepunktet jedoch nur einfach unverdrossen weiter …
Ach, der Puter! Mir lief noch heute das Wasser im Mund zusammen, wenn ich daran dachte! Und jedes Mal bei Geflügel aus dem Rohr, stiegen sofort diese Erinnerungen wieder auf: Welche Wonnedüfte alleine schon im Untergeschoss stets aus der Eingangstür gekrabbelt kamen! Es wurde mit jedem Schritt intensiver, bis es in der Küche schließlich original in den Augen brannte. Das lag aber auch mit daran, dass Oma kein guter Lüfter war, aber nur wegen der teuren Heizung, iss klar. Darum stand in der ganzen Bude der Bratenqualm dicht ab einer Höhe von einem Meter und begann einem im Flur glatt die Sicht zu nehmen, woraufhin man sich in der Küche nur noch nach Tastbefund orientieren konnte. In all diesen Nebel hinein kam regelmäßig der Schrei meiner Mutter: „Oh, Gott! Bist Du wahnsinnig?! Wer soll denn das alles essen?! Was wiegt der Archäopterix?!“ Oma, eine ausgebombte Trümmerfrau, reagierte auf solche Anwürfe stets vollkommen unzermürbt: „Der Vogel hatte knapp über zehn Kilo, und das war noch der Kleinste - ich hab ihn auch kaum reingebracht! Ihr werdet Euch also wohl ein Bisschen was mitnehmen müssen …“ Jedes Jahr dasselbe, herrlich! Die Speisefolge sah dann auch immer gleich aus: Weihnachten gab es drei Tage lang Puter und Reste. Tag vier kochte Oma einen riesen Pott voll Geflügelsuppe, mit Sternchennudeln, damit man mal einen neuen Geschmack hatte. Danach filtrierte sie die Feststoffe ab und machte Sülze daraus, fürs Abendbrot - mal was anderes.
Mit einer Mischung aus Schaudern und Wehmut dachte ich daran, wie ich mich mit ca. zehn, in einem von Mutter aus sechseckigen Häkelrosetten zusammengesetzten „Jumper“ in Kackbraun und Schweinchen-rosa, vor dem Tannenbaum an der Blockflöte abarbeitete. Eine künstlerische Darbietung musste nämlich zwingend sein! Meine gequälte Mutter hatte dieses Stück wahrscheinlich seit Oktober bereits gute 145 Mal genossen und atmete gewiss erleichtert aus: Endlich vorbei! Als Oma plötzlich verstarb, da war ich erst Achtzehn, hatte der Weihnachtszauber mein Leben für immer verlassen …
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